Warum kann ich das nicht?
Wenn Clara* eine Banane isst, braucht sie dafür eine Stunde. Ihren Nachnamen kann sie sich nicht merken. Die Jacke zuknöpfen, die Klettverschlüsse an den Schuhen schließen – das klappt an manchen Tagen ganz gut. Und ist an anderen ein unüberwindbares Hindernis. Dann kommen die Tränen, die Wut, die Traurigkeit. Warum klappt das nicht? Die anderen Kinder können das doch auch! Clara* ist fünf Jahre alt und hat FAS, das fetale Alkoholsyndrom.
Die Krankheitsbilder, die auf Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zurückgehen, sind vielfältig und werden unter dem Begriff Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) zusammengefasst. In besonders schweren Fällen – wenn eine Vielzahl an Krankheitsbildern zusammen kommt und das Baby sowohl körperlich als auch geistig beeinträchtigt ist – spricht man von FAS. So wie bei Clara.
Claras Start ins Leben hätte kaum schwieriger sein können. Sie kommt vier Wochen zu früh zur Welt, mit einer Halbseitenlähmung, einer Muskelschwäche, einem Herzfehler sowie weiteren Organschäden. Und: Das viel zu zarte Frühchen muss in seiner ersten Lebenswoche auf der Intensivstation einen Alkoholentzug durchstehen. Ob Clara das überlebt, ist ungewiss.
Lebenslange Beeinträchtigungen
Jährlich sind etwa 10.000 Kinder in Deutschland von Fetalen Alkoholspektrum-Störungen betroffen, teilweise mit dramatischen Folgen. Etwa 3.000 unter ihnen leiden unter dem Vollbild der Krankheit, FAS. Von diesen bleiben 80 Prozent lebenslang auf Hilfe angewiesen. Was viele nicht wissen: Auch leichtes Gewohnheitstrinken oder ein gelegentlicher Rausch können bereits bleibende Schäden verursachen. Selbst Kinder mit „leichtem“ FASD besuchen später häufig keine Regelschulen und sind in vielen Bereichen auf Betreuung angewiesen.
Clara ist eine kleine Kämpferin. Sie übersteht den Entzug und kann nach einigen Wochen das Krankenhaus verlassen. Doch ihre alkoholkranke Mutter kann sich nicht um sie kümmern. Claras Gesundheitszustand bleibt weiter kritisch, das Ausmaß ihres FAS ist noch unklar. Und so kommt das Baby zunächst in eine Kurzzeitpflegefamilie. Erst nach zweieinhalb Jahren ist Clara so stabil, dass sie in eine Langzeitpflege wechseln kann. Sie lernt ihre neuen Papas kennen, Sebastian und Paul (heute beide 38). „Das war so eine schöne Begegnung“, erinnert sich Pflegevater Sebastian. Sie schließen das kleine Mädchen ins Herz. Mit allen Schwierigkeiten, die sie mitbringt. Und nach zweieinhalb Monaten Kennenlernzeit ist auch Clara soweit, ganz zu den beiden zu ziehen.
Essen? Ein Kraftakt
Der Alltag zu dritt ist schön und steckt doch voller Herausforderungen. „Clara ist ein Sonnenschein, ein ehrgeiziges Kind, und so fröhlich.“ So beschreibt Sebastian seine Pflegetochter. Doch ihre Krankheit ist ein großer Teil von ihr. „Clara hatte von Anfang an unheimliche Probleme mit der Nahrungsaufnahme“, sagt Sebastian. „Als sie zu uns kam, konnte sie nur grüne Gurke essen“. Wegen der Muskelschwäche fiel es ihr schwer, zu kauen und zu schlucken. Zudem ist sie traumatisiert. Neun Monate lang hat sie im Bauch ihrer Mutter gelernt, dass Nahrung ihr schadet. „Immer wieder der Alkohol, das hat Auswirkungen bis heute“, sagt Sebastian. Das Essen fällt Clara auch mit fünf Jahren noch immer schwer. Drei Mal am Tag investieren Sebastian und Paul eine Stunde Zeit um sie dabei zu begleiten. „Das ist wie ein Kampf, ein richtiger Kraftakt“, sagt Sebastian.
Wenn der Druck nachlässt, bricht sie zusammen
FAS ist unberechenbar. An manchen Tagen wirkt Clara wie die anderen Mädchen in ihrem Kindergarten. Seit sie vier Jahre alt ist, hat sie dort einen Integrationsplatz, spielt mit ihren Freundinnen, ist glücklich. „Sie strengt sich an, mit den anderen mitzuhalten“, sagt Sebastian. „Aber wenn am Ende des Tages der Druck nachlässt, bricht sie oft zusammen.“ Clara kann dann einfach nicht mehr. Sie wird lethargisch, kann keinen klaren Satz mehr sprechen, die Mimik friert ein.
Was an einem Tag gut ging, geht am nächsten nicht mehr, ohne erkennbaren Grund. „Sie leidet unter einer Art Demenz. Zum Beispiel fahren wir jeden Tag mit dem Aufzug, wochenlang drückt Clara denselben Knopf. Und plötzlich fragt sie, wo sie drücken muss“, erzählt Sebastian. Ein weiteres Problem für Clara ist die Konzentration. Sie lässt sich schnell ablenken, braucht viel Rückversicherung von ihren Vätern. Ihr Wortschatz ist ebenfalls noch sehr klein. Dann sind da noch die körperlichen Einschränkungen. Claras Zähne sind schlecht – 10 Löcher wurden bereits behandelt. Und ihre motorischen Fähigkeiten sind eingeschränkt, malen fällt ihr beispielsweise schwer. „Einen Kreis schafft sie“, sagt Sebastian. „Aber mehr ist für sie nicht möglich.“
Eine frühe Diagnose hilft den Betroffenen
Zum Glück gibt es viel Hilfe. Clara bekommt Ergotherapie und Heilpädagogik. „Wir stehen eng in Kontakt mit einem Frühförderzentrum und dem Sozialpädiatrischen Zentrum“, ergänzt Sebastian und betont: „Je früher man FAS diagnostiziert, desto besser. Nur so können Betroffene schnelle und individuelle Förderungen bekommen, damit sie so gut wie möglich selbstständig am Leben teilnehmen können.“
Das Tückische an FAS: Alles ist offen
Am Leben teilnehmen – das tut Clara in vollen Zügen. Da sie kleiner ist als andere Kinder in ihrem Alter, fallen ihre Einschränkungen noch nicht auf. „Ihre Lebensfreude ist riesig und zum Glück wird sie noch nicht zu stark mit ihren Problemen konfrontiert “, sagt Papa Paul.
Doch wie wird es in der Schule werden? Wird sie dort ausgegrenzt? Kann sie überhaupt eine normale Schule besuchen? Sebastian ist sich sicher: Eine Klasse mit 35 Kindern, das wird sie nicht schaffen. „FAS ist so tückisch, weil alles offen ist“, sagt er. „Es gibt keine Prognosen, wir wissen nicht, wie sie sich entwickeln wird.“ Betrübt sind die beiden Papas nicht. „Wir freuen uns auf das Leben mit ihr, sie macht uns so viel Freude“, sagen sie. Clara ist einfach Clara. Und trotzdem bleibt die Frage: Wie wäre Clara ohne FAS?
*Namen von der Redaktion geändert.
Sie benötigen Hilfe und Beratung rund um das Thema FASD? Beim FASD Deutschland e.V. finden Sie Adressen von Fachärzten und Beratungsstellen in Ihrer Nähe.